Der Begriff »Deutsche Frage« bezeichnet gemeinhin den in der europäischen Geschichte zwischen 1806 und 1990 in unterschiedlicher Form immer wieder auftretenden Problemkomplex der deutschen Einheit.
Nachdem das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zerfallen war, und sich nach und nach die europäischen Nationalstaaten herausgebildeten, stellte sich auch für Deutschland die Frage, welche Grenzen und welche territoriale Ordnung es haben sollte. Von der Frankfurter Nationalversammlung über die Konstituierung des Deutschen Kaiserreichs, den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg bis zur Wiedervereinigung wurden über diese Frage immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen kontroverse Diskussionen und kriegerische Auseinandersetzungen geführt. Seit jeher stand die territoriale Ordnung Deutschlands, v. a. wegen der zentralen Lage in Europa und der bestehenden Ressourcen, in enger Wechselbeziehung mit der europäischen Geschichte und der Entwicklung des Kräfteverhältnisses der jeweiligen Großmächte.
Mit der Deutschen Einheit 1990 fand eine grundlegende Neugestaltung der Ost-West-Beziehungen statt12, in deren Rahmen die Deutsche Frage, insbesondere durch die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und den Abschluss des entsprechenden »Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland« geregelt wurde. Seither gilt sie gemeinhin als geklärt34. Damals sagte der seinerzeitige Bundespräsident Richard von Weizsäcker beim Festakt zur deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990: »Der Tag ist gekommen, an dem zum ersten Mal in der Geschichte das ganze Deutschland seinen dauerhaften Platz im Kreis der westlichen Demokratien findet.«5
Dieser »Platz im Kreis der westlichen Demokratien« wurde untermauert durch die Einbindung des wiedervereinten und nun erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder vollständig souveränen Deutschlands in NATO und EU. Vor dem Hintergrund, dass die Klärung der Deutschen Frage 1990 nur unter klarer Zuordnung des wiedervereinten Deutschlands zum »Westen« überhaupt denkbar und die Einbindung in NATO und EU Grundvoraussetzung für die Wiedervereinigung war, erstaunt es nicht, dass das wiedervereinigte Deutschland diese Beziehungen zum »Westen« seither stets intensiv gepflegt hat.
Gleichzeitig gab es nach der Wiedervereinigung, auch vor dem Hintergrund der generellen Entspannung des alten Ost-West-Konflikts, aber auch eine Annäherung des wiedervereinigten Deutschlands an Russland: nach der friedlichen Wiedervereinigung 1990 war Deutschland dankbar für die problemlose Abwicklung der Folgeauswirkungen, fühlte sich gleichzeitig als Impulsgeber und Motor für eine stärkere Integration Russlands in europäische Strukturen und warb für Kredite und Investitionen in Russland. Mit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders und dem Wirtschaftsaufschwung in Russland unter Wladimir Putin waren die deutsch-russischen Beziehungen insbesondere im Bereich der Wirtschaft, aber auch beim politischen Dialog so intensiv wie nie zuvor. Seit 1998 fanden jährlich bilaterale Regierungskonsultationen auf höchster Ebene statt.6
Spätestens seit der russischen Annexion der Krim 2014 flammte der alte Ost-West-Konflikt jedoch wieder auf, und er betrifft Deutschland aufgrund seiner geschichtlichen Entwicklung und seiner wechselnden Verflechtung mit den beiden Großmächten USA und Russland in besonderer Weise.
Georg Friedman, prominenter US-amerikanischer Fachmann in geopolitischen Fragen, formulierte 2015 im Zusammenhang mit der US-Strategie der Verhinderung einer Kooperation von Russland mit Deutschland und der Errichtung eines sogenannten »Cordon Sanitaire« gegen Russland (Linie vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer) eine neue »Deutsche Frage«, mit der man sich befassen müsse: »Wer mir jetzt sagen kann, was die Deutschen tun werden, der wird mir die nächsten 20 Jahre der Geschichte erzählen.«7
Friedman bezeichnete die Beziehungen von Deutschland zu Russland als »komplex« und die Verbindung von deutschem Kapital und deutscher Technologie mit russischen Ressourcen und russischen Arbeitskräften als »einzige Kombination, die die Vereinigten Staaten seit Jahrhunderten in Angst und Schrecken versetzt hat«. Für Friedman war die Antwort auf die Frage, was Deutschland tun würde, keineswegs klar. Deutschland sei immer schon wirtschaftlich mächtig, aber geopolitisch sehr anfällig gewesen: »Seit 1871 ist dies die deutsche Frage. Die klare Frage nach Europa.«8
Acht Jahre später, am 6. Januar 2023, beantwortet die Deutsche Bundesregierung George Friedmans “German Question”: Deutschland beliefert – wie Bundeskanzler Scholz es formuliert „international abgestimmt und koordiniert“ – die Ukraine mit Panzern.910
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Bundeszentrale für politische Bildung, »Die deutsche Frage in der internationalen Politik«14. März 2023
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Cicero, Magazin für poliltische Kultur, »Die deutsche Frage«14. März 2023
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dt. Wikipedia, »Deutsche Frage«14. März 2023
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Bundeszentrale für politische Bildung, »Verhandlungen mit den Vier Mächten«14. März 2023
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Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker beim Staatsakt zum »Tag der deutschen Einheit«https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1990/10/19901003_Rede.html
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dt. Wikipedia, »Deutsch-russische Beziehungen«14. März 2023
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George Friedman, „Europe Destined for Conflict?“, Chicago Council on Global Affairshttps://globalaffairs.org/events/europe-destined-conflict
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George Friedman, „Europe Destined for Conflict?“, Chicago Council on Global Affairs14. März 2023
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Bundesregierung kündigt Lieferung von Leopard-2-Panzern an die Ukraine an14. März 2023
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Liste der militärischen Unterstützungsleistungen – Übersicht der Bundesregierung14. März 2023